90 % der reinen Online-Händler werden bis 2020 nicht überleben – Kommentar
Jochen Krisch hat vor ein paar Tagen auf dem ExcitingCommerce Blog eine kritische Frage gestellt:
Wie gefährlich sind die Thesen des ECC/Instituts für Handelsforschung für die Branche?
So konnte die Hudetzifizierung der Branche in den letzten Jahren absurde Dimensionen annehmen, so absurd, dass sich mittlerweile selbst gemäßigte und zumeist auf Ausgleich bedachte Stimmen nicht mehr zurückhalten können und auf die Auswirkungen und auf die Gefahren hinweisen (“Die Weltuntergangspropheten des E-Commerce”):
Auch ich habe meine subjektive Sicht und die Erfahrungen aus ecomparo Projekten in einem längeren Kommentar auf ExcitingCommerce einfließen lassen. Den richtigen Ton zu treffen ist bei einem solchen Thema nicht leicht. Im Kern geht es dabei - wenn man offen und ehrlich ist - um viel mehr als Relevanz oder Gehör. Es geht darum (Händlern und Herstellern) die eigene und ehrliche Meinung mitzuteilen, die sich aus eigenen und einer Vielzahl von mitgeteilten Erfahrungen zusammensetzt. Die Vielzahl an Informationen und Erkenntnissen ergeben schließlich ein Gesamtbild. Wenn dieses eigene Gesamtbild dann mit medial-verbreiteten Aussagen in einem Bereich (in diesem Falle E-Commerce), in dem man selbst beruflich und privat seit Jahren unterwegs ist kollidiert, dann fällt ein Kommentar mitunter auch sehr unverblümt aus.
Zum Verständnis des Kommentars bitte zunächst den erwähnten Artikel lesen und das aktuelle Video vom IFH (5 Minuten Dauer) ansehen.
Original-Kommentar von ExcitingCommerce.de
Jochen, vielen Dank für den Anstoß und das Thema dieser Diskussion und auch ein Dank an die Kommentare aus unterschiedlichen Blickwinkeln!!
Um deinem Aufruf nach lebhafter Debatte nachzukommen, auch von mir ein paar kritische Anmerkungen, im Detail zum aktuellen 5-Minuten Video vom IFH vom 08.03.2016, die bitte in der Sache verstanden sein wollen. Nur aus einem kritischen Austausch kann etwas gutes entstehen!
An der Stelle möchte ich konstruktiv kritisch auf das oben erwähnte Video und die Thesen eingehen, da mich diese sehr beschäftigen…
2014 wurde vom IFH die These formuliert “90 % der derzeitigen, reinen Online-Händler werden bis 2020 nicht überleben.”, auf die nochmal im aktuellen Video eingegangen wird.
Für mich schwingen die folgenden Thesen und Relativierungen der 2014er-These im aktuellen Video mit und mich würde es sehr interessieren, wie ihr konkret die Aussagen im Video interpretiert.
“WIR WERDEN DANN ABER AUCH ERKENNEN, UND IN DEN USA IST ES JA SCHON ANGEKÜNDIGT, DASS AMAZON STATIONÄR DORT EIN BISSCHEN AUCH GRÖSSER DENKT, DASS MAN SICH EHER FRÜHER ALS SPÄTER MIT DIESEN THEMEN [GEMEINT IST CROSS CHANNEL] BESCHÄFTIGEN SOLLTE.”
- Hier wird Amazon in der Vorbild-Funktion für stationäre Aktivitäten genannt. Amazon ist aber eine Plattform/ Infrastruktur/ Marktplatz und kann meiner Meinung nach hier nicht als passendes Vorbild für Online Pureplayer dienen.
- Wenn Amazon in Deutschland demnächst ein flächendeckendes “Store-Netz” zur Erweiterung der Handels- und Logistik-Infrastruktur aufbaut, um seine Amazon-Marketplace-Händler in Kombination mit dein eigenen Amazon (Fulfillment-)Services näher an stationär einkaufende Kunden zu rücken (z.B. zur Neukundengewinnung), dann macht es selbst für die größten Online-Pureplayer wirtschaftlich keinen Sinn, es Amazon gleich zu tun, da diese eben kein Plattform/ Infrastruktur-Modell verfolgen.
- Sicherlich können nicht alle Offlineaktivitäten von Onlinern als Service eingeordnet werden; aber Amazon wird in diesem Zusammenhang vom IFH sozusagen als “Proven Winner” angeführt.
Sinngemäß: BEREITS DAS BLOSSE ABHOLEN VON WARE IN PICK-UP-STATIONEN IST EIN CROSS CHANNEL KONZEPT!
- Wann hört Pureplay auf und wo fängt Cross Channel an? Diese Frage ist in der ganzen Diskussion Omnichannel vs. Pureplay offensichtlich von entscheidender Bedeutung.
Eine zur reinen Übergabe von online gekauften Produkten dienende Einrichtung ist – meiner Meinung nach – lediglich eine Weiterentwicklung von Post-Filialen und DHL Packstationen. - Und diese sind wiederum nur eine Weiterentwicklung des Postboten. Es geht um Zustell-Logistik. Die Begrifflichkeit „Service“ sollte am Hauptzweck Vertriebskanal, Lieferlogistik oder eine Kombination aus beidem festgemacht werden. Packstationen sind kein Cross-Channel Vertriebskanal, sondern dienen rein logistischen Zwecken.
- Wenn eine reine Übergabestation von online erworbenen Produkten als Cross-Channel Lösung bezeichnet werden kann, dann – überspitzt formuliert – ist die physische Auslieferung von Ware durch DHL & Co auch bereits ein Cross-Channel-Modell.
Sinngemäß: STATIONÄR KANN MAN ZUSÄTZLICH DIE MARKE AUF BAUEN UND ZUSATZSERVICES ANBIETEN, DIE ONLINE NICHT REALSIERBAR SIND
Uneingeschränkte Zustimmung
Sinngemäß: NUR WENN ONLINEHÄNDLER AUCH STATIONÄR AKTIV SIND, KÖNNEN SIE ÜBERLEBEN, D.H. CLEVERE STATIONÄRE KONZEPTE FÜHREN ZURÜCK ZUR WETTBEWERBSFÄHIGKEIT.
- Ein steigender Anteil unserer Nutzer und Kunden kommt aus dem stationären Umfeld. Online ist für viele aus ihrer Sicht die einzige Hoffnung, durch größeren Absatz überleben zu können.
- Der umgekehrte Weg, d.h. den stationären Verkauf als den Königsweg für PurePlay-Händler zu beschreiben, kann aus meiner beruflichen Sicht nur in Einzelfällen und engen Geschäftsmodell-Nischen – Stichwort MyMuesli – sinnvoll sein. Für die große Mehrheit, der auch kleinen Onlinehändler, kann dies aber kein erfolgreich zu beschreitender Lösungsweg sein.
- Ich teile Stefans Ansicht der zu erwartenden hohen Ausfallquote, weil einfach zu viele Grundlagen (aus der Praxis) fehlen.
“WIR WERDEN NATÜRLICH KEINE BEREINIGUNG SEHEN, IN DER FORM SEHEN, DASS ES WENIGER ONLINEHÄNDLER GIBT, WIR WERDEN ABER DANN SICHERLICH VIELLEICHT EINEN SHIFT-IN DEN GESCHÄFTSMODELLEN SEHEN.” > “WHAT WE SEE IS THE END OF PUREPLAY”.
- Ich formuliere nochmal überspitzt, dass die Aussage klar wird: Mich erinnert der erste Satz an die, ab und an geänderte Definition der Arbeitslosenquote. Übertragen: Plötzlich nutzt ein Onliner einen Pick-Up-Stations-Service und schon ist er raus aus der Statistik und die Welt hat einen PurePlay-Onlinehändler weniger.
“WIR SEHEN JA VON MYMUESLI BIS MR. SPEX, DASS LETZTLICH AUCH UNTERNEHMEN DIE ALS REINE PUREPLAYER GESTARTET SIND UND VON DENEN MAN GEMEINT HAT SIE HABEN WIRKLICH EINEN GANZ KLAREN ONLINE-KERN, DASS SIE JETZT IN STATIONÄRE GESCHÄFTE UNTERSCHIEDLICHER ART UND WEISE INVESTIEREN.”
- Mymuesli und Mr. Spex sind Erfolgsbeispiele. Aber dienen sie auch als Muster-Beispiele für die breite Masse der Online-Pureplayer? Ob dies ohne die Betrachtung der jeweiligen Sortimente bejaht werden kann, muss jeder Händler selbst bewerten.
Notebooksbilliger
Dass Notebooksbilliger in Deutschlandweit seit Start 2010 aktuell nur 3 und nicht 10 oder 20 Filialen betreibt, kann meiner Meinung nach als starkes Indiz gewertet werden, dass die Eröffnung von stationären Stores kein Bringer von signifikantem, vertrieblichen Wachstums ist.
Notebooksbilliger-Zitat: “Wir wollen nur Filialen, die wirtschaftlich arbeiten.” Aber auch in der Argumentation von Notebooksbilliger schwingt der Begriff “Service” über die Begriffe “kürzere Wege”, “großes Lager” und “Same-Day-Delivery” mit.
Negative vs. positive Stimmung
Aus meiner Sicht ist es notwendig und sinnvoll auf die aktuellen und zukünftigen, auch in den Kommentaren genannten Bedrohungen (Amazon, Alibaba, usw.) für Händler aber auch für Hersteller hinzuweisen. Aber undifferenziert (unterschiedliche Händlergrößen!) ausgesprochene oder provozierende Thesen besitzen leider einen überproportionalen Verbreitungsgrad und verleiten damit Händler zu unüberlegtem Aktionismus und führen in vielen Fällen zu Fehlentscheidungen (unsere Erfahrung aus der Praxis).
Meine These bis zum Jahr 2020 ist daher, dass weniger als 10% aller Online-Pureplayhändler (über alle Unternehmensgrößen hinweg) eine stationäre Strategie einschlagen werden und sich die Anzahl der Händler gleichzeitig um nicht mehr als 20% reduziert.
@heypaula – Schlechte Organisation der eCommerce-Welt
Ca. 45% des Online-Handelsvolumens in Deutschland liegen bei Amazon. Amazon wäre für sinnvolle Lobbyarbeit prädestiniert. Aber anstatt sich in öffentlichen, politischen Diskussions- & Talkrunden aufzureiben, wird still und heimlich die eigene Infrastruktur und der Bezos-Masterplan global vorangetrieben. Bleibt aktuell nur die Hoffnung auf die Verbände…
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Alexander Hofmann
Alexander Hofmann ist Geschäftsführer der HOWADO GmbH, die mit ecomparo Recherche- & Beratungsleistungen zur Auswahl passender E-Commerce-Software bietet. Als E-Commerce Experte unterstützt er Unternehmen dabei, die Zukunftsfähigkeit von Geschäftsmodellen zu validieren, E-Commerce-Strategien zu bewerten und durch die Identifikation der individuell passenden E-Commerce-Software-Bausteine ein langfristig uneingeschränktes Unternehmenswachstum sicherzustellen. Er schreibt und spricht regelmäßig über verschiedene Themen des E-Commerce und ist ein gefragter Interviewpartner in Fachmagazinen.