Amazon Locker – Der Wolf im Schafspelz für den stationären Handel?
Seit Ende des Jahres 2015 häufen sich die Meldungen zu den logistischen Vorstößen des Handelsriesen und Marktplatzanbieters Amazon zu dessen Aufbau eigener Zustellmöglichkeiten (Amazon baut eigenen Lieferservice). Der Treiber dieser Entwicklung ist bei genauer Betrachtung die bestmögliche Verkürzung der Zustelldauer von Produkten oder Services. Aus diesem Grunde nutzt Amazon seine neu geschaffene logistische Infrastruktur und Lieferkapazität in erster Linie für die Zustelloptionen „Same-Day Delivery“ (taggleiche Lieferung) und „Prime Now“ (Lieferung innerhalb einer Stunde). Die Aussagen seitens Amazon, dass die eigene Logistikentwicklung kurz bis mittelfristig DHL und Hermes nicht ersetzen soll und kann, sind daher nachvollziehbar und stimmig.
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Warum strebt Amazon die Unabhängigkeit von DHL & Co an?
„Amazon möchte von Versanddienstleistern unabhängiger werden“ ist die gängige Interpretation vieler Marktbeobachter zur Bekanntgabe der deutschlandweiten Einführung von Amazon Locker durch die Partnerschaft mit Shell. Im Kern geht es Amazon meiner Einschätzung nach aber v.a. darum, den eigenen Innovationspfad, auch beim Thema „Abholstation“ offen zu halten und kontrollieren zu können. Denn einer gemeinsamen Weiterentwicklung von neuen Zustell-Services basierend auf der DHL Packstation-Plattform in Kooperation mit DHL liegen aus Sicht von Amazon mehrere Probleme zugrunde: Zum einen wäre Amazon von der Innovationsgeschwindigkeit von DHL zur Schaffung benötigter Prozesse abhängig. Außerdem würde eine Kooperation bei der Bereitstellung von innovativen Zustellservices durch DHL langfristig für Amazon die Differenzierung zum Wettbewerb (USPs) erschweren.
Verschenkte Potentiale der DHL Packstation
Während Amazon beispielsweise bei den Liefergeschwindigkeiten über die letzten Jahre den Handels-Wettbewerb durch immer kürzere Lieferzeiten und neue Services vor sich hertreibt, ist es bei der Packstation mit der DHL ausnahmsweise ein anderes Unternehmen, dass ab dem Jahr 2002 mit den ersten Packstationen die Innovation in diesem Bereich voran trieb und zur Erfolgsgeschichte machte. Allerdings hat sich die Funktionsweise der DHL Packstationen im Kern seit 2002 nur unwesentlich weiterentwickelt (Geschichte der Packstation – Wikipedia). Nur wenige Anwendungsfälle (Abgabe von Paketen, Benachrichtigungen per APP/ SMS) sind in den letzten Jahren hinzugekommen.
Die angekündigte weitreichende Kooperation mit einem Tankstellenbetreiber Shell hat dabei für Amazon einige Vorteile:
- Optimaler Schutz gegen Vandalismus. Tankstellen sind bereits mit umfangreicher und kostenintensiver Sicherheitstechnik ausgestattet.
- Lange, bzw. durchgehende Öffnungszeiten.
- Großflächiges Shell-Tankstellennetz mit knapp 2000 Tankstellen in Deutschland.
- Reine Standort-Kooperation. D.h. es ist keine aufwändige technische Integration von Amazon-Services in Shell-Systeme notwendig. Es werden lediglich Stellflächen, Strom und ein Internetzugang benötigt, wodurch keine langfristige technologische Abhängigkeit entsteht.
- Ausrollen der Amazon Locker Infrastruktur ins europäische Ausland ebenfalls mit flächendeckender Shell-Infrastruktur möglich
Amazon Locker – Eine reine Kopie der DHL Packstation?
Eine Lieferung von Amazon-Bestellung zu DHL Packstationen mit all den Vorteilen für bequeme Onlineshopper ist schon seit mehreren Jahren möglich (u.a. inhouse Packstationen). Auch eine schnellere Lieferung an eine Packstation mittels DHL Express ist problemlos möglich. Amazon würde mit Amazon Locker jedoch erfahrungsgemäß nicht in Infrastruktur investieren, wenn diese Lösung lediglich als Kopie der DHL Packstation für die Amazon-Kunden konzipiert worden wäre, zumal die existierende DHL Infrastruktur mit über 2650 Packstationen ohne jegliche Investitions- oder Wartungskosten durch Amazon genutzt werden kann. Bei einer genauen Analyse der Logistikprozesse und Abläufe rund um die Systeme DHL Packstation und Amazon Locker finden sich jedoch einige spannende Innovations-Potentiale, die bis dato von DHL nicht genutzt werden und brach liegen.
Durch die nahtlose Integration von Amazon Locker in die Amazon Logistik-Infrastruktur werden darüber hinaus neue Services wie z.B. eine flexible Änderungen der Zustellung-Destination in Echtzeit, oder auch eine Weiterleitung einer, bereits in einem Amazon Locker Schließfach zugestellten Sendung, möglich.
„Same-Moment-Delivery“ mit Amazon Locker
Der Bedarf an einer schnellstmöglichen Lieferung ist zunächst prinzipiell abhängig vom jeweiligen Produkt und Sortiment. Besonders Produkte, die von den Kunden sehr kurzfristig benötigt werden (bspw. Ersatzgerät für ein defektes Smartphone), sind für den Anwendungsfall einer unmittelbaren „Bereitstellung“ in einem Amazon Locker optimal geeignet.
Generell würde sich „Same-Moment-Delivery“ v.a. für folgende Anwendungsfälle und Produkte eignen:
- Schnelldreher mit hoher Verfügbarkeits-Dringlichkeit (z.B. Smartphones)
- Geräte im gewerblichem Einsatz mit notwendiger Hochverfügbarkeit
- Zeitkritische Ersatzteile/ Ersatzteillager
- Verbrauchsmaterial (z.B. Toner)
- Generell unabhängig vom Preis des Artikels nutzbar
- weitere Sortimente denkbar
Amazon könnte zukünftig aufgrund seiner datenunterstützten Erfahrungswerte schnelldrehende Artikel bereits ohne End-Adressat an Amazon Locker senden und dort bereithalten. Je größer die Anzahl der Schließfächer je Amazon Locker, desto größer wären folglich auch die Kapazitäten der Bereitstellung.
So könnte eine „Same-Moment-Delivery“-Bestellung in eine Amazon Locker-Station in naher Zukunft aussehen
Der eingeloggte Amazon-Kunde erhält auf der Produktdetailseite von bestimmten Produkten, die sich bereits in einem, beim Kunden im Amazonkonto hinterlegten „Amazon Locker“ befinden, einen werblichen Hinweis angezeigt: „Jetzt kaufen und sofort im Amazon Locker EMMA abholen“. Auch eine Filterung nach Produkten, die sich in bestimmten Amazon Locker Standorten in der Nähe befinden – ähnlich einer Filterung nach „verfügbar mit Prime“ – ist denkbar.
„Same-Moment-Delivery“ wäre bei einer Erweiterung der DHL Versandschnittstellen auch mit DHL Packstationen möglich:
Fotomontage eines Ausschnitts des Check-Outs von Notebooksbilliger.de.
Das obige Same-Moment-Delivery Beispiel von Amazon ist dabei nur eine Variante der durch Amazon Locker ermöglichten Zusatzservices. Im Zentrum des Amazon Locker Konzepts steht ähnlich wie bei den Services „Prime Same-Day-Delivery“ und „Prime Now“ die optimierte und schnelle Verfügbarkeit von Waren am Ort der Endverwendung. Optional könnte Amazon die Kosten der Lieferart „Same-Moment“, aufgrund der, im Vergleich zum Verteilzentrum teuren Lagerung im Amazon Locker, auch den Kunden, durch eine Servicegebühr weitergeben. Die Preissensibilität von dringend benötigten Produkten ist schließlich vergleichsweise niedrig.
Amazon Locker Infrastruktur ermöglicht dezentrale Warenlagerung und Filialabholung
Aber auch die Nutzung von Filialen von Amazon Marketplace-Händlern als Amazon-Locker-Station zu Same-Moment-Delivery Zwecken (Abholung) ist nach einer Etablierung der Amazon Locker Infrastruktur durchaus denkbar, zumal zunehmend Fachgeschäfte Ihre lokalen Waren u.a. auf Amazon anbieten. Dadurch dass der gesamte Lagerbestand von Marketplace-Händlern auf Amazon per „Same-Moment-Delivery“ verfügbar gemacht werden kann, könnte v.a. in Ballungszentren der Anteil des, per „Same-Moment-Delivery“ verfügbaren Sortiments auf amazon.de sprunghaft ansteigen.
Amazon Locker als Wolf im Schafspelz für den stationären Handel?
Durch eine zu erwartende flächendeckende Einführung von Amazon Locker in Deutschland und anderen europäischen Ländern rückt Amazon nochmals ein großes Stück näher an den stationären Einzelhandel heran. Das Beispiel „Same-Moment-Delivery“ zeigt, dass der Schritt hin zu einem deutschlandweiten Netz an stationären Verkaufsflächen, bzw. Verkaufsstellen für Amazon mit Amazon Locker machbar ist. Der ehemals starke USP des Einzelhandels, nämlich die sofortige Verfügbarkeit von Produkten wird dadurch, wie schon durch die Einführung von „Prime Now“, weiter abgeschwächt. Für Amazon wäre es somit von Amazon Locker hin zu „Amazon Local“ nur eine kleiner Schritt.
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Alexander Hofmann
Alexander Hofmann ist Geschäftsführer der HOWADO GmbH, die mit ecomparo Recherche- & Beratungsleistungen zur Auswahl passender E-Commerce-Software bietet. Als E-Commerce Experte unterstützt er Unternehmen dabei, die Zukunftsfähigkeit von Geschäftsmodellen zu validieren, E-Commerce-Strategien zu bewerten und durch die Identifikation der individuell passenden E-Commerce-Software-Bausteine ein langfristig uneingeschränktes Unternehmenswachstum sicherzustellen. Er schreibt und spricht regelmäßig über verschiedene Themen des E-Commerce und ist ein gefragter Interviewpartner in Fachmagazinen.